Streckenausbau und Weiterbetrieb zum Hauptbahnhof statt jahrzehntelanger Tunnelbaustelle auf den Fildern
Vorbehalte gegen den Gäubahntunnel wegen gravierender Nebenwirkungen – Neuer Vorschlag für Anbindung an den Hauptbahnhof Stuttgart
Im Streit um die Beibehaltung der Anbindung der Gäubahn an den Stuttgarter Hauptbahnhof appellieren der Landesnaturschutzverband Baden-Württemberg (LNV) und der Fahrgastverband PRO BAHN an Stadt, Region, Land und Bahn, den größten Nutzen für Fahrgäste und Wirtschaft anzustreben. Die seit einigen Wochen diskutierte Variante mit einem neuen 12 km langen Gäubahntunnel quer über die Fildern von Böblingen-Goldberg bis zum Flughafen genüge diesem Anspruch nicht. Die Verbände legen daher einen kostengünstigen Alternativvorschlag zur direkten Anbindung der Gäubahn an den Stuttgarter Hauptbahnhof vor.
„Die große Mehrheit der Gäubahnnutzer will zügig und ohne umzusteigen in die Stuttgarter Innenstadt oder an den Hauptbahnhof, um von dort aus weiterzureisen. Das heißt: Eine Kappung der Gäubahn in Stuttgart-Vaihingen über viele Jahre ist inakzeptabel und der angedachte Gäubahntunnel mit mindestens 13 Jahren Planungs- und Bauzeit nicht zielführend“, sagen der LNV-Vorsitzende Dr. Gerhard Bronner sowie der stellvertretende Vorsitzende des Regionalverbands Stuttgart von PRO BAHN Dr. Wolfgang Staiger. „Was wir stattdessen brauchen, ist die volle Konzentration auf den überfälligen Streckenausbau zwischen Böblingen und Singen. Dieser verkürzt die Fahrzeit um rund 15 Minuten, während der Gäubahntunnel bei Investitionskosten von rund einer Milliarde Euro nur dreieinhalb Minuten Fahrzeitverkürzung bringt.“
Neue provisorische Gleisverbindung für die Gäubahn am Hauptbahnhof
Wie jetzt bekannt wurde, müsste die Gäubahn zum Stuttgarter Hauptbahnhof auch mit dem diskutierten Bau eines unterirdischen Ergänzungsbahnhofs mindestens bis 2032 unterbrochen werden. Es würde also in jedem Fall eine langjährige Unterbrechung der täglich von etwa 8.000 Fahrgästen genutzten Strecke geben. Deshalb schlagen LNV und PRO BAHN vor, die bestehende Strecke, die heute in der Mitte des Gleisvorfelds einmündet, provisorisch mit einem neuen oberirdischen Verbindungsgleis an die am Parkrand verlaufenden Gleise und den Bahnsteig 15/16 anzubinden. Damit wäre die Gäubahn weiterhin direkt an den Hauptbahnhof angeschlossen – und zugleich ließen sich rund 90 Prozent des Gleisvorfeldes schnell bebauen; bei dem neuen von PRO BAHN entwickelten und OB Dr. Nopper vorgelegten Lösungsvorschlag ließ sich auch die Verkehrsführung für den Autoverkehr wie von der Stadt gewünscht optimieren (eine detaillierte Beschreibung des Vorschlags kann in der beigefügten Anlage nachgelesen werden).
„Das wäre eine kostengünstige Lösung, die die Gäubahn für Pendler und Reisende attraktiv hält“, betont Stefan Frey, LNV-Vorstand und -Verkehrsreferent. „Offenbar unterschätzen viele Entscheider die Bedeutung der Gäubahn noch immer massiv. Sie ist keine Bimmelbahn ins Hinterland, sondern eine wichtige Pendlerstrecke und zentrale Verbindung in die Schweiz, Baden-Württembergs wichtigstem europäischen Wirtschaftspartner.“
Gäubahntunnel: „Wundermittel“ mit zu vielen Nebenwirkungen
Mit großer Skepsis blicken LNV und PRO BAHN auf den angedachten Gäubahntunnel. „Dass sich mit dem Tunnel der kritische Mischverkehr vermeiden ließe, ist zweifellos ein Vorteil“, sagt Staiger. „Wer den ‚Beipackzettel‘ des Gäubahntunnels allerdings genau studiert, findet dort eine ganze Reihe von Nebenwirkungen, die dem angeblichen Wundermittel schnell die Strahlkraft rauben.“
Gegen den Gäubahntunnel spricht aus Sicht von LNV und PRO BAHN unter anderem:
– Das Nutzen-Kosten-Verhältnis des Gäubahnausbaus hat sich durch den 920 Mio. Euro teuren Tunnel (Preisstand 2015) gegenüber dem vorher vorgesehenen Ausbau ohne diesen Tunnel von 2,7 auf nur noch 1,2 verschlechtert[1] und liegt damit nur noch ganz knapp über der Rentabilitätsgrenze. Das bedeutet, dass der Gäubahntunnel für sich genommen unwirtschaftlich ist und die Gesamtbilanz nach unten zieht. Die Kosten für Ingenieurbauwerke sind seit 2015 bis zum 1. Quartal 2021 bereits um 22% gestiegen[2] und weitere Kostensteigerungen sind absehbar. Es ist deshalb zu befürchten, dass der gesamte Ausbau der Strecke auf der Kippe stehen könnte.
– Im Störungsfall auf der S-Bahn-Stammstrecke könnten S-Bahnen nicht, wie ursprünglich vorgesehen, durch den Tiefbahnhof und den Fildertunnel umgeleitet werden, um am Flughafen die Filder-S-Bahn zu erreichen. Durch den Gäubahntunnel fällt die geplante Verbindung am Flughafen weg, so dass die Stationen Echterdingen, Leinfelden, Oberaichen, Vaihingen und Rohr vom Hauptbahnhof aus nicht mehr direkt bedient werden können.
– Eine tangentiale Express-S-Bahn-Verbindung von Böblingen über den Flughafen ins Neckartal und nach Nürtingen und bis Kirchheim/Teck als höchst sinnvoller Ringschluss im S-Bahnsystem wäre nicht mehr möglich. Von ihr hatte Regionalpräsident Thomas Bopp noch 2015 geschwärmt, sie werde zusätzliche Fahrgäste auf die Schiene bringen und die parallel verlaufenden staubelasteten Autobahnen A 8 und A 81 entlasten[3] – aus Sicht der Verbände eine zutreffende Einschätzung. In den Gäubahntunnelplänen ist aber nun gar keine Gleisverbindung von der Gäubahn zur Neubaustrecke in Richtung Wendlingen mehr vorgesehen.
– Nach derzeitiger Fahrplankonzeption rund um den Gäubahntunnel würden Halte an den wichtigen Bahnhöfen und Knotenpunkten Böblingen und Singen entfallen (dort nur noch Halt am Haltepunkt Landesgartenschau, mit weiterem Zwangsumstieg). Grund für diese extrem fahrgastunfreundlichen Maßnahmen ist, dass mittels Verzichtes auf diese Halte maßgeblich dazu beigetragen werden kann, durch zusätzliche Fahrzeitverkürzung das Nutzen-Kosten-Verhältnis trotz teurem Gäubahntunnel über die Wirtschaftlichkeitsschwelle von 1 zu hieven.
Auf den Punkt gebracht: Der Gäubahntunnel als lokales „Wundermittel“ kann sein grundsätzlich berechtigtes Ziel (Vermeidung von Mischverkehr von Fern,- Regional- und S-Bahnzügen auf der S-Bahntrasse auf den Fildern) im Wesentlichen nur dadurch erreichen, dass andere Städte und Regionen deutliche Verschlechterungen hinnehmen müssen. Doch es gibt Mittel und Wege, solche nachteiligen Nebenwirkungen zu vermeiden.
Bessere Lösung: Vorfahrt für Streckenausbau und direkte Anbindung
Die Nebenwirkungen des Gäubahntunnels schaden den bisher einvernehmlich festgelegten „therapeutischen“ Zielen und Maßnahmen zur Stärkung und Attraktivitätssteigerung der Gäubahn. „Bereits 1996 hat die Bundesrepublik im Staatsvertrag von Lugano der Schweiz den Ausbau der Strecken Stuttgart-Zürich sowie München-Zürich zugesagt. Die Schweiz hat ihre Hausaufgaben gemacht. Auf deutscher Seite ist die Strecke München – Lindau (-Zürich) seit diesem Jahr ausgebaut“, so Stefan Frey vom LNV. Auf der Strecke Stuttgart-Singen (-Zürich) hingegen sei in Deutschland noch kein Kilometer ausgebaut worden. Ein Unding zum Nachteil der Fahrgäste und der Wirtschaft entlang dieser bedeutenden internationalen Entwicklungsachse.
„Anstatt rund eine Milliarde Euro für den Bau eines Gäubahntunnels auf den Fildern zu versenken, sollten die Verantwortlichen die Strecke zwischen Böblingen und Singen zügig gemäß bereits vorliegender Planungen ausbauen sowie – ohne Kappung in Stuttgart-Vaihingen – den Hauptbahnhof Stuttgart weiterhin direkt und ohne Gäubahntunnel anschließen. Das wäre kostengünstiger und würde den Fahrgästen sehr viel mehr Nutzen bringen als ein weiterer Tunnel, der frühestens 2034 fertig sein könnte“, betonen Bronner und Staiger.
Zusammenfassung der Kritikpunkte und Lösungsvorschlag
Lösungsvorschlag für eine unterbrechungsfreie Anbindung der Gäubahn in der Interimsphase