Formales Vorgehen wegen drohender Kappung der Gäubahn – Eil-Rechtsschutz beantragt
Wertvolle Verkehrsinfrastruktur nicht zerstören
Der Landesnaturschutzverband Baden-Württemberg (LNV) will vollendete Tatsachen bei der Gäubahn verhindern. Gestützt auf ein Rechtsgutachten hat er sich in einem mit Experten des Fahrgastverbands PRO BAHN erarbeiteten Antrag an das Eisenbahnbundesamt (EBA) gewandt. Ziel: Das EBA soll der Deutschen Bahn untersagen, die Strecke stillzulegen.
„Die Deutsche Bahn AG hat kürzlich angekündigt, mit Inbetriebnahme des neuen Tiefbahnhofs die Gäubahn in Stuttgart stillzulegen. Damit verstößt sie vorsätzlich gegen ihre Betriebspflicht. Die Politik schaut weitgehend tatenlos zu. Bestenfalls debattiert sie überwiegend mit folgenloser Betroffenheit nur lokalpolitische Folgen. Hier geht es aber um bundesweite Auswirkungen auf das umweltfreundliche und ressourcenschonende Verkehrsmittel Bahn“ sagt der Vorsitzende des LNV Baden-Württemberg, Dr. Gerhard Bronner. „Der Bahnhof Stuttgart ist schließlich eingebettet in ein nationales und internationales Schienennetz, die Gäubahn ein Teil davon.“
„Für etwa zehn Jahre wäre auf der internationalen Bahnverbindung in die Schweiz und nach Italien kein durchgehender Zug von und nach Stuttgart Hauptbahnhof mehr möglich. Dafür gibt es keine Rechtfertigung“, so Stefan Frey, LNV-Vorstandsmitglied und Referent für Verkehr. „Die bisherigen Genehmigungen sahen eine nahezu gleichzeitig fertiggestellte neue Führung der Gäubahn künftig über den Flughafen vor. Eine zehnjährige Unterbrechung war im Rahmen des S21-Konzepts nie geplant. Vielmehr ist“, so Frey weiter, „für eine so lange Kappung ein eisenbahnrechtliches Stilllegungsverfahren erforderlich. Die Abbindung der Gäubahn und anderweitige Nutzung der Bahnfläche etwa für Wohn-oder Gewerbezwecke oder ein Parkhaus würde außerdem eine sog. Freistellung (Entwidmung) der Bahnfläche erfordern.“
LNV-Vorsitzender Gerhard Bronner betont zu dem bei Stuttgart 21 wichtigen Thema Wohnungsbau: „Wir sehen das berechtigte lokale Interesse an Wohnungsbau. Die Stadt Stuttgart will schnell neue Wohnungen dort bauen, wo bisher noch Züge in den Hauptbahnhof fahren. Allerdings steht diesem lokalen Interesse der bundesweite Bahnverkehr gegenüber. Durch den vorübergehenden Beibehalt der Gäubahnführung an den Hauptbahnhof wäre nur ein relativ kleiner Teil der 85 ha großen Fläche des vorgesehenen Bebauungsplans zur Folgenutzung des Gleisvorfelds und seiner Umgebung betroffen. Zudem wäre selbst bei zügigster Abwicklung aller Verfahren sowie der Altlastenbeseitigung kaum vor 2032 mit Fertigstellung der ersten Wohneinheiten auf dem Gleisvorfeld zu rechnen. Für den aktuellen Wohnungsbedarf müssen daher andere Potenziale genutzt werden wie Nachverdichtung, Aufstockungen und Umnutzungen.“
Zum Thema Widmung der Bahngleise für den Bahnverkehr macht der LNV deutlich: Es handelt sich um eine Zweckbestimmung, die nur bei ganz engen Ausnahmen wegfällt. Mit folgenden Beispielen lässt sich diese Zweckbestimmung erläutern: Auch andere Städte haben Wohnungsprobleme. Dort käme aber niemand auf die Idee, deshalb Bahngleise stillzulegen, zu entwidmen und darauf Wohnungen zu bauen. Rechtlich ähnlich ist es bei der Straßennutzung. Straßen sind dem Autoverkehr gewidmet. Straßenflächen werden auch nicht in Wohnungsbau überführt, oft selbst dann nicht, wenn eine neue Ersatzstraße zur Verfügung steht. Auch darf beispielsweise kein Gastwirt seinen Bewirtungsbereich auf eine Fahrbahn ausdehnen, um seinen Betrieb zu erweitern, mag die Gästenachfrage noch so groß sein.
Der LNV stellt ferner klar, dass sein Antrag die restlichen S21-Planungen unberührt lässt. Auch die alte Idee, den Kopfbahnhof doch zu erhalten, wird mit diesem Antrag nicht weiterverfolgt. Der Antrag zielt darauf ab, die Gäubahn via Panoramabahn bis an den neuen Stuttgarter Hauptbahnhof heranzuführen – temporär, bis der Pfaffensteigtunnel zwischen Stuttgart-Flughafen und Böblingen die Gäubahn anschließt.
Hintergrundinformationen
Die Deutsche Bahn AG will die Gäubahn vom Stuttgarter Hauptbahnhof abschneiden. Sie begründet das damit, dass die Gäubahn bei Stuttgart21 über den Flughafen und nicht via Panoramabahn-Vaihingen an die Innenstadt angebunden werde. Dieses Vorgehen beruhte auf der Vorstellung, die Strecke via Flughafen werde etwa gleichzeitig mit S21 fertig. Die Deutsche Bahn AG erklärt nun selbst, dass sich diese Planung erledigt hat. Die Gäubahn wird erst etwa 2035 oder später via Flughafen an den neuen Hauptbahnhof angeschlossen. Das soll über den 11 km langen Pfaffensteigtunnel zwischen Böblingen und Stuttgart-Flughafen geschehen.
Die Umwelt- und Fahrgastverbände fordern, für die Bauzeit bis etwa 2035 die Gäubahn via Panoramabahn an den Hauptbahnhof zu führen. Sie stützen sich auf ein Gutachten von Prof. Dr. Urs Kramer von der Universität Passau. Das Rechtsgutachten hatten zusammen mit dem LNV vier weitere Umwelt- und Verkehrsverbände (Verein zur Förderung des Schienenverkehrs, Fahrgastverband PRO BAHN, Verkehrsclub Deutschland VCD, BUND, NABU) Ende 2021 in Auftrag gegeben („Gutachten zur eisenbahnrechtlichen Bewertung der „Abbindung“ der heutigen „Gäubahnstrecke“ zwischen Stuttgart Hauptbahnhof und Stuttgart-Vaihingen bzw. einem neu zu errichtenden „Nordhalt“ in der Nähe des Nordbahnhofs“). Das Gutachten wurde am 28. April veröffentlicht.
Prof. Kramer hatte Folgen aufgezeigt, die durch die Umplanung von S21 am Flughafen entstehen. Demnach besteht die Betriebspflicht der Deutschen Bahn AG für die Gäubahn via Panoramabahn bis Stuttgart Hauptbahnhof fort.
Auf gleicher Linie wie das Gutachten von Prof. Kramer liegt ein von der Stadt Stuttgart Anfang Juni 2022 der Öffentlichkeit zugänglich gemachtes Gutachten der Berliner Anwaltskanzlei WMRC Wichert und Partner vom November 2020, das laut Stadt Stuttgart der internen Meinungsbildung bei der Stadt diente.
Der LNV hat seinen Antrag ans EBA online gestellt, ebenso das Rechtsgutachten von Prof. Dr. Kramer und die Folienpräsentation hierzu.
Die Informationen sind abrufbar unter:
Gutachten von Prof. Dr. Urs Kramer
Vortrag von Prof. Dr. Urs Kramer
Antrag an das Eisenbahnbundesamt
Pressemitteilung zum Download: Antrag des Landesnaturschutzverbandes BW wegen der von der Deutschen Bahn vorgesehenen Gäubahnkappung