Tagung am 25.10.2013 in Stuttgart
Waldkalkung – Heilmittel mit Nebenwirkungen?
Gut 160 Interessierte waren am 25. Oktober der gemeinsamen Einladung der Forstlichen Versuchs- und Forschungsanstalt Baden-Württemberg (FVA) und des Landesnaturschutzverbandes (LNV) ins Museum Löwentor in Stuttgart gefolgt, um sich über das Thema Waldkalkung zu informieren. Namhafte Expertinnen und Experten von Universitäten und Forschungseinrichtungen referierten zur Problematik von Versauerung- und Entsauerungsprozessen. Sie wogen das ‚Für und Wider‘ der Bodenschutzkalkung ab, sowie diskutierten ihren Nutzen und ihre eventuellen Risiken.
Seit mehreren Jahrzehnten werden in Baden-Württembergischen Wäldern Kalkungen durchgeführt. Alina Janssen, Universität Freiburg, gab einen Überblick über die durchgeführten Kalkungen seit 1984. Danach betrage die gekalkte Waldfläche heute ca. 20% der gesamten Waldfläche Baden-Württembergs. Überwiegend wurden bei diesen Bodenschutzkalkungen dolomitische Gesteinsmehle eingesetzt, um Säureeinträge aus der Luft zu puffern und negativen Bodenentwicklungen entgegen zu wirken sowie verloren gegangene Bodenfunktionen wiederherzustellen.
Waldböden sind anthropogen bedingt versauert
Säurebildungs- und Säurepufferprozesse seien die entscheidenden Antreiber der Bodenentwicklung, berichtete Martin Kaupenjohann von der Technischen Universität Berlin. Gleichzeitig bestimmten diese Prozesse die physikochemischen Bedingungen für das Leben im und auf dem Boden. In natürlichen, vom Menschen nicht beeinflussten Böden seien die Kohlen- und Karbonsäuren die quantitativ wichtigsten Säuren. Diese seien entweder als schwache Säuren in ihrer versauernden Wirkung begrenzt, die nicht weit in den Boden hinein reiche, so Kaupenjohann weiter. Sie könnten zu sehr niedrigen pH-Werten in Oberböden führen, transportierten jedoch keine sauer wirkenden Kationen in den Unterboden und /oder in die Oberflächengewässer. Für die Unterbodenversauerung und letztendlich für die Grundwasserversauerung seien dagegen die anthropogen bedingten Schwefel- und insbesondere die Salpetersäure verantwortlich, die mit den Niederschlägen in Böden eingetragenen werden. Kalke, die in den versauerten Unterboden einzudringen vermögen, wären daher wünschenswert, resümierte Kaupenjohann.
Patient Baum oder Boden?
Die Unterbodenversauerung könne auch nach Kalkung andauern, meinte auch
Christian Kölling von der Bayerischen Landesanstalt für Wald und Forstwirtschaft. Er benutzte humanmedizinisches Vokabular, indem er die Kalkung mit einem Heilmittel für kranke Böden verglich, das wie ein Medikament auf den Stoffhaushalt der Wälder wirke: „es werden ökosystemfremde Stoffe zugeführt, es werden deutliche Reaktionen in den behandelten Wäldern beabsichtigt und auch erzielt.“ Hochwirksame Heilmittel hätten jedoch auch Risiken und Nebenwirkungen; auch die Kosten seien dem zu erwartenden Nutzen gegenüber zu stellen, so Kölling. Für Kölling gewinnt das alte Prinzip der Humuspflege erneut an Bedeutung, das insbesondere durch standortgerechte Mischwälder gefördert werde. Kalkung als unterstützendes Mittel sieht er nur dann als indiziert an, wenn durch menschlichen Einfluss der Stoffhaushalt der Wälder so stark gestört ist, dass die Nährstoffversorgung der Bäume gefährdet sei und Mangelerscheinungen auftreten. Kalkung diene dann ausschließlich der Therapie oder Prophylaxe von Ernährungsstörungen an Bäumen.
Auch für Klaus von Wilpert von der FVA ist es wichtig, dass genau überprüft wird, ob eine Kalkung überhaupt notwendig ist. Dabei geht er von dem Patienten Boden aus – nicht vom Baum, wie Kölling. Von Wilpert plädiert für ein schonendes und differenziertes Kalkungskonzept, das den jeweiligen Bodenverhältnissen angepasst ist, um damit einen nachhaltig stabilen und naturnahen Bodenzustand wieder herzustellen bzw. erhalten zu können. Diese Chance bestehe heute, da die Säureeinträge soweit reduziert werden konnten, dass eine weitere Bodenversauerung nur noch sehr langsam verlaufe oder ganz gestoppt wurde. Geblieben sei, so von Wilpert, eine „depositionsbedingte Altlast“, die Waldökosysteme und ihre Funktionen belastet. Ein langfristiges Kalkungskonzept soll nun dazu dienen, die essenziellen Bodenfunktionen effizient und dauerhaft zu regenerieren. Die notwendige Kalkmenge werde standortsspezifisch hergeleitet und variiere daher regional. Kalkungssensitive Naturschutzflächen und Biotope seien von der Kalkung ausgenommen.
Biotopschutz contra Kalkung
Welche Flächen aus Sicht des Landes Baden-Württemberg kalkungssensitiv sind, wird in der Handreichung formuliert, die das Ministerium Ländlicher Raum (MLR) gemeinsam mit dem Landesamt für Umwelt, Messung und Naturschutz Baden-Württemberg (LUBW) 2005 formuliert hat. Diese Grundlage gelte weiterhin, da es seither keine grundlegend neuen fachlichen Erkenntnisse zur Sensitivität der Schutzobjekte gibt, so Bernd-Jürgen Seitz, Regierungspräsidium Freiburg. Nach diesen Vereinbarungen sind unter anderem naturschutzgesetzlich geschützte Trockenbiotope, Moorbiotope und Feuchtbiotope von der Kalkung ausgeschlossen. Auch weitere kalkungsempfindliche Waldbiotope, FFH-Gebiete (Fauna-Flora-Habitat) und Auerhuhnhabitate werden differenziert bewertet. Seitz sieht jedoch einen Forschungsbedarf bezüglich der Auswirkungen von Kalkungsmaßnahmen auf die FFH-Lebensräume und –Arten. Einzelne Untersuchungen deuteten darauf hin, dass die säuretolerante Moosflora besonders stark durch Waldkalkungen beeinflusst wird. Deshalb und wegen der zwischenzeitlichen Etablierung von Natura 2000 auch im Wald sollte die Handreichung überarbeitet werden.
Albert Reif, Universität Freiburg, bewertet die Waldkalkung ambivalent: Die Waldkalkung wirke nicht nur der Versauerung entgegen, sondern verbessere gleichzeitig die Verfügbarkeit von Stickstoff und verstärke dadurch die Auswirkungen der Nährstoffanreicherung. Die Bodenvegetation reagiere auf Kalkung mit einer Zunahme an in der Regel unerwünschten Arten, wie Brombeere, Himbeere und Reitgräsern. Dagegen gingen Moose zurück und die Artenzusammensetzung von Mykorrhizapilzen und Bodenfauna verändere sich vollständig, meinte Reif. Um das Problem an der Wurzel zu packen, sei es notwendig, die Stickstoffeinträge aus Landwirtschaft und Verkehr zu reduzieren. Zum Schutz der Biodiversität sollten Bodenschutzkalkungen in stark bodensauren Wäldern mit besonderen Lebensgemeinschaften und auf von Natur aus versauerten Böden ausdrücklich verboten werden. Außerdem forderte er Pufferzonen und angepasste Verabreichungstechniken zum Schutz dieser empfindlichen Habitate gegen Kalkeinträge.
Keine gesetzliche Grundlage für die Kalkung in der Schweiz
Um die zunehmende Nährstoffanreicherung macht sich auch Sabine Braun vom Institut für Angewandte Pflanzenbiologie, Schönbuch, in der Schweiz Sorgen. Wie in Deutschland, wurden auch in der Schweiz in den letzten Jahrzehnten markante Veränderungen des Ökosystems Wald beobachtet. Die Bodenversauerung schreite dort heute noch voran. Als Hauptverursacher sieht Braun die Stickstoffeinträge vor allem aus der Landwirtschaft. Stickstoffüberschuss führe zu einer Verminderung anderer Makronährstoffe, vor allem Phosphor, in den Blättern und Nadeln, erläuterte Braun Ergebnisse von Experimenten mit jungen Forstpflanzen. Auch Kalium- und Magnesiumgehalte könnten durch Stickstoffüberschuss vermindert werden. Zudem konnte nachgewiesen werden, dass bei hohem Stickstoffangebot in Folge von Nährstoffungleichgewichten die Mortalität bei Fichte als Folge von Trockenheit zunehme und die Wassernutzungseffizienz bei Buche abnehme. Mit dem Untertitel ihres Beitrags „Was passiert, wenn nichts passiert“ zieht sie den Schluss, dass die dargestellten Umwelteinflüsse Argumente für die Durchführung von Bodenschutzkalkungen in der Schweiz sein könnten. Aufgrund politischer Festlegungen werde dort derzeit nicht gekalkt.
Was bleibt?
Mehr Unterschiede als Gemeinsamkeiten fand der Moderator Ulrich Schraml, Universität Freiburg, in den Ausführungen und Diskussionen des Tages: gleiche Kalkungspraktiken, aber unterschiedliche Ziele, unterschiedliche Bedingungen, unterschiedliches Naturverständnis und unterschiedliche gesetzliche Vorgaben. Konstantin von Teuffel, FVA Freiburg, stellte zusammenfassend ein besseres Verständnis für unterschiedliche Argumente fest. Hinsichtlich der Handreichung zwischen dem MLR und dem LUBW über die Schutzobjekte im Zusammenhang mit der Kalkung forderte er deren turnusmäßige Revision. In seinem Schlusswort plädierte Reiner Ehret, LNV, dafür, soweit wie möglich auf die Selbstheilungskräfte der Natur zu setzen. Am Beispiel der Schweiz sprach er sich dafür aus, nicht vorrangig die Symptome zu bekämpfen, sondern die Ursachen, wie in diesem Fall die hohen Stickstoffemissionen.
Download: LNV-PM zur Tagung Waldkalkung mit FVA
Die Tagungsbeiträge werden ab Anfang nächster Woche auf unserer Homepage abrufbar sein.