LNV-Info 3/2015
Informative Studie des Bundesamtes für Naturschutz über vorgezogene Ausgleichsmaßnahmen
Das Bundesamt für Naturschutz (BfN) hat im Rahmen eines Forschungs- und Entwicklungs-Vorhabens die Ermittlung fachlicher Rahmenbedingungen in Auftrag gegeben, die für die Durchführung und Wirksamkeit von aus Artenschutzgründen erforderlichen, vorgezogenen Ausgleichsmaßnahmen – auch CEF-Maßnahmen (measures that ensure the continued ecological functionality) genannt – entscheidend sind.
Der Endbericht aus dem Jahr 2010 bietet nützliche Informationen zu den artenschutzrechtlichen Vorgaben des Bundesnaturschutzgesetzes (BNatSchG), erörtert die fachlichen und inhaltlichen Anforderungen an vorgezogene Ausgleichsmaßnahmen und stellt die verschiedenen Maßnah-mentypen des Artenschutzes, des Natura 2000-Gebietsschutzes sowie der Eingriffsregelung nebeneinander.
Für 30 ausgewählte Arten (siehe Tabelle auf der nächsten Seite) wurden zudem 133 mögliche vorgezogene Ausgleichsmaßnahmen hinsichtlich ihrer Eignung zur Erfüllung der artenschutzrechtlichen Anforderungen untersucht. Für 27 der 30 repräsentativ bearbeiteten Arten konnten Rahmenbedingungen formuliert werden, aus denen sich einzelne oder mehrere CEF-Maßnahmen mit hoher oder sehr hoher Eignung ergeben. Bei drei untersuchten Arten konnten keine Maßnahmen hoher oder sehr hoher Eignung benannt werden, da sie entweder Biotope mit sehr langer Entwicklungsdauer besiedeln (Mittelspecht und Juchtenkäfer) oder Erkenntnislücken bestehen: Für den Thymian-Ameisenbläuling ist insbesondere die mangelnde Kenntnis zur Etablierung ausreichender Vorkommen der Wirtsameise ausschlaggebend für den Mangel an geeigneten Maßnahmen.
Insgesamt ist festzustellen, dass für die meisten Arten und Maßnahmen gut dokumentierte Erfolgskontrollen zur Maßnahmenwirksamkeit leider fehlen und folglich Prognoseunsicherheiten bestehen. Ein verstärktes Monitoring für vorgezogene Ausgleichsmaßnahmen ist daher zwin-gend erforderlich, um Fehlentwicklungen rechtzeitig zu erkennen und die Maßnahmen entsprechend anpassen zu können.
Liste der repräsentativ bearbeiteten Arten (aus: RUNGE ET AL. 2010; vgl. Fußnote 1)
Zum Herunterladen:
Endbericht des
Bundesamtes für Naturschutz
Hintergrundinformationen zu CEF-Maßnahmen
Die Fauna-Flora-Habitat-Richtlinie (FFH-RL; Richtlinie 92/43/EWG des Rates vom 21. Mai 1992 zur Erhaltung der natürlichen Lebensräume sowie der wildlebenden Tiere und Pflanzen) und die Vogelschutz-Richtlinie (V-RL ) gehören zu den wichtigsten Rechtssetzungen der Europäischen Union zum Erhalt der biologischen Vielfalt in Europa. Um die in den Richtlinien genannten Arten und Lebensräume dauerhaft zu sichern und in einem günstigen Erhaltungszustand zu halten bzw. zu bringen, hat die EU das europäische Schutzgebietssystem „Natura 2000“ sowie Best-immungen zum Artenschutz eingeführt.
Die artenschutzrechtlichen Vorschriften betreffen dabei sowohl den physischen Schutz von Tie-ren und Pflanzen als auch den Schutz ihrer Lebensstätten. Sie gelten für alle Arten des Anhangs IV FFH-RL sowie für alle europäischen Vogelarten. Anders als das Schutzgebietssystem Natura 2000 gelten die strengen Artenschutzregelungen flächendeckend – also überall dort, wo die betreffenden Arten oder ihre Fortpflanzungs- und Ruhestätten vorkommen. Die entsprechenden Vorgaben der FFH-RL (Art. 12, 13, 16) und der V-RL (Art. 5, 9, 13) finden sich in den Regelungen der §§ 44 Abs. 1, 5, 6 und 45 Abs. 7 Bundesnaturschutzgesetz (BNatSchG) wieder.
Im Zusammenhang mit Planungen und der Genehmigung von Vorhaben sind für die europäisch geschützten Arten die in § 44 Abs. 1 BNatSchG formulierten Zugriffsverbote zu beachten.
Demnach ist es verboten,
1. wild lebenden Tieren der besonders geschützten Arten nachzustellen, sie zu fangen, zu verletzen oder zu töten oder ihre Entwicklungsformen aus der Natur zu entnehmen, zu beschädigen oder zu zerstören,
2. wild lebende Tiere der streng geschützten Arten und der europäischen Vogelarten während der Fortpflanzungs-, Aufzucht-, Mauser-, Überwinterungs- und Wanderungszeiten erheblich zu stören; eine erhebliche Störung liegt vor, wenn sich durch die Störung der Erhaltungszustand der lokalen Population einer Art verschlechtert,
3. Fortpflanzungs- oder Ruhestätten der wild lebenden Tiere der besonders geschützten Arten aus der Natur zu entnehmen, zu beschädigen oder zu zerstören,
4. wild lebende Pflanzen der besonders geschützten Arten oder ihre Entwicklungsformen aus der Natur zu entnehmen, sie oder ihre Standorte zu beschädigen oder zu zerstören.
Nach § 44 Abs. 5 BNatSchG ergeben sich u. a. bei der Bauleitplanung und der Genehmigung von Vorhaben die folgenden Sonderregelungen: Sofern die ökologische Funktion der von dem Eingriff oder Vorhaben betroffenen Fortpflanzungs- und Ruhestätten im räumlichen Zusammen-hang weiterhin erfüllt wird (und vermeidbare Beeinträchtigungen durch geeignete Maßnahmen, wie z.B. Bauzeitenbeschränkungen, vermieden werden), liegt kein Verstoß gegen die oben ge-nannten Zugriffsverbote Nr. 1, 3 und 4 vor. Der Gesetzgeber eröffnet so die Möglichkeit für Vor-habenträger, durch Realisierung vorgezogener Ausgleichsmaßnahmen, d.h. CEF-Maßnahmen, ein Eintreten artenschutzrechtlicher Verbotstatbestände zu verhindern.
Vorgezogene Ausgleichsmaßnahmen sollen, trotz der Beschädigung oder (Teil)- Zerstörung ei-ner Fortpflanzungs- oder Ruhestätte, die ökologische Funktion der betroffenen Lebensstätte im räumlichen Zusammenhang dauerhaft und ohne zeitliche Unterbrechung gewährleisten.
Im Prinzip geschieht dies, indem die Funktionsfähigkeit der betroffenen Lebensstätte vor dem Eingriff durch Erweiterung, Verlagerung und/oder Verbesserung der Habitate so erhöht wird, dass es zu keinem Zeitpunkt zu einer Reduzierung oder einem Verlust der ökologischen Funktion der Lebensstätte kommt. Das Maß der Verbesserung muss dabei gleich oder größer als die zu erwartenden Beeinträchtigungen sein, so dass bei Durchführung des Eingriffs zumindest der Status quo gewahrt bleibt.
Die ökologische Funktion der Fortpflanzungs- oder Ruhestätten ist normalerweise dann weiterhin erfüllt, wenn nachgewiesen oder mit Sicherheit angenommen werden kann, dass es nicht zur Minderung des Fortpflanzungserfolgs oder der Ruhemöglichkeiten der betroffenen Individu-engruppe kommen kann und die Größe der lokalen Population sich nicht signifikant verringert. Eine wesentliche Voraussetzung hierfür ist, dass alle von der jeweiligen Population benötigten Habitatstrukturen (Fortpflanzungs- oder Ruhestätten im engeren Sinne, aber auch ggf. betroffe-ne Nahrungshabitate und Wanderbeziehungen sofern sie für die Funktionsfähigkeit der Fortpflanzungs- und Ruhestätten und damit auch für die dauerhafte Sicherung der betroffenen loka-len Individuengemeinschaft einen limitierenden Faktor darstellen) in vollem Umfang erhalten bleiben bzw. vor dem Eingriff neu geschaffen werden und zum Zeitpunkt des Eingriffs voll funk-tionsfähig zur Verfügung stehen.
Eine vorgezogene Ausgleichsmaßnahme ist somit wirksam:
• wenn die neu geschaffene Lebensstätte mit allen notwendigen Habitatelementen und
-strukturen aufgrund der Durchführung mindestens die gleiche Ausdehnung und eine gleiche oder bessere Qualität wie die verloren gehende Lebensstätte hat UND
• wenn die zeitnahe Besiedlung der neu geschaffenen Lebensstätte unter Beachtung der aktuellen fachwissenschaftlichen Erkenntnisse mit einer hohen Prognosesicherheit durch Referenzbeispiele oder fachgutachterliches Votum attestiert werden kann ODER
• wenn die betreffende Art die Lebensstätte nachweislich angenommen hat.
An CEF-Maßnahmen werden somit hohe Anforderungen hinsichtlich ihrer Wirksamkeit gestellt, die in der Planungspraxis jedoch leider häufig nicht erreicht werden. Eine Untersuchung von Gerhard/Fabian/Hövelmann/Kaubisch nahm die Planungspraxis im Straßenbau Nordrhein-Westfalens dahingehend unter die Lupe, ob die festgesetzten CEF-Maßnahmen überhaupt grundsätzlich geeignet sind, die rechtlichen Anforderungen an vorgezogene Ausgleichsmaßnahme zu erfüllen.
Die Ergebnisse waren ernüchternd: Von den 231 artbezogenen und in der Planungspraxis ver-wendeten Maßnahmentypen, für die auswertbare Rückantworten der befragten Art-Experten vorlagen, wurden ca. 34 % von den Art-Experten mit den Werten „funktionieren sicher nicht“ oder „funktionieren wahrscheinlich nicht“ eingestuft. Rund 29 % erhielten demgegenüber die Werte „funktionieren sicher“ oder „funktionieren wahrscheinlich“; die Bewertung „funktioniert sicher“ wurde dabei allerdings nur für einen einzigen artspezifischen Maßnahmentyp abgegeben. Die restlichen ca. 37 % liegen bei dem Wert „funktionieren vielleicht, vielleicht aber auch nicht“.
Dieses Ergebnis legt nahe, dass bereits in der Konzeption geeigneter CEF-Maßnahmen erhebliche Defizite und Wissenslücken bestehen. Wenn man bedenkt, dass auch die Umsetzung der geplanten Maßnahmen oftmals nicht frei von Mängeln oder zeitlich unzureichend ist, ergibt sich ein ernüchterndes Bild über die tatsächliche Wirksamkeit von CEF-Maßnahmen.
Stuttgart, 08.12.2015, gez. Julia Flohr